ABSCHWEIFUNGEN

Zum Verhältnis von Interesse und Langeweile beim Erzählen

Paul Groebel, Essay, 2023

Wie stellst du dir eine Abschweifung eigentlich vor, fragst du vielleicht. Naja, wäre meine Antwort, eine Abschweifung ist wenn ich mich oder dich für einen Moment verliere [ ]

[ ] Ich möchte Dir schreiben. Es fällt mir heute schwer. Konzentriere ich mich zu sehr darauf, fällt das Geschriebene in sich zusammen. Wenn ich beginne dich zu vergessen, schweife ich ab – Mein Erzählen befindet sich also in diesem seltsamen Zwischenraum, der sich auftut, wenn ich nicht mehr ganz sicher bin, ob du noch da bist, und endet, bevor ich dich völlig vergessen habe –

Dich ganz zu vergessen das wäre eine Katastrophe, glaube ich. Eine Katastrophe die jedoch vielleicht bereits eingetreten sei, erinnert mich deine Stimme flüsternd. Ich bekomme Angst. Täuscht mich meine Erinnerung? Wiederholt sich die Katastrophe –

In der Ungewissheit ob ich dich verloren oder nur vergessen habe, in der Ungewissheit ob die Katastrophe bereits stattgefunden hat oder nicht, hier finde ich meine Lust abzuschweifen wieder. Ich muss sie offenbar kurz aus den Augen oder aus den Ohren verloren haben. Das Abschweifen, so kommt es mir vor, ist ein Abwenden und Zuwenden zugleich. Etwas wendet sich ab und schlägt mit dem Bug durch den Wind. Es wendet sich der anderen Seite meines Interesses oder der anderen Seite meiner Lust zu. Das Interesse, eine Spezialkonstruktion meines Begehrens, meiner Lust, ich finde sie hier, am Rand der vergehenden Zeit –

Ich lege mich hin. Ich bleibe lieber kurz liegen. Ich atme. Ich schweife ab, folge meiner Lust. Ich gehe an dir vorbei, streife deinen Verlust, das ist die Wahrheit, ab, ich vergrößere den Abstand. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ich dich bereits verloren habe, doch ich weiß es nicht ganz genau. [ ]

Abschweifungen. Ein Essay

Klebebindung 15×21 cm

10 Exemplare